Die Zukunft ruft an

Ich saß im internationalen Zug nach Deutschland. Jeden Monat reise ich nach Bonn – im Rahmen eines Kunstprojekts über die ehemalige westdeutsche Hauptstadt in den letzten Jahren des Kalten Krieges. Geführt werde ich von einer Reihe sowjetrussischer Karten von 1987, auf denen 275 Gebäude mit Zahlen markiert und mit Farbcodes versehen sind. Diese Gebäude waren offensichtlich für die Russen von Bedeutung: Regierungsgebäude, Botschaften, Postämter, Industrieanlagen. Ich streife durch ganz Bonn und fotografiere diese 275 Gebäude. In gewisser Weise reise ich in eine Ära, die vor 30 Jahren endete. Auf dem Weg zurück in der Zeit mache ich Bilder von der Vergangenheit und versuche, die Zukunft dieser Vergangenheit einzufangen. Ich benutze eine alte analoge Kamera, in die ich abgelaufene Diafilme einlege. Filme, die in der gleichen Zeit produziert wurden, in der diese russischsprachigen Karten gedruckt wurden. Der Belichtungsmesser meiner Kamera ist defekt. Normalerweise überprüfe ich die Lichtverhältnisse mit einer App auf meinem Smartphone.

Diesmal jedoch hatte ich mein Smartphone zu Hause gelassen. Stattdessen stand mir ein kleines braunes Mobiltelefon namens MP 01 zur Verfügung. Es hatte keine Kamera, kein Internet, keine Karten, keine Apps (und damit keinen Belichtungsmesser). Einfach ein schlichtes Telefon: nur Anrufe und SMS. Mit diesem kleinen Telefon zu reisen, bedeutete, dass ich mich auf meine Instinkte als Fotograf verlassen musste (ohne einen Belichtungsmesser zu haben). Ich würde mich als Wanderer auf meine Instinkte verlassen müssen (ohne Google Maps). Ich freute mich schon auf die unerwarteten Momente, die aufgrund der Verwendung dieses Telefons auftreten würden.

Das Unerwartete kam früher als erwartet. Die Fahrscheine bitte. Ein Zugführer betrat das Abteil. Scheiße, die Tickets! Normalerweise habe ich meine Zugfahrkarten auf meinem Smartphone. Ich hatte komplett vergessen, sie diesmal auszudrucken. Eine Mitreisende war so nett, mich ihr Telefon benutzen zu lassen. Ich konnte auf meinen E-Mail-Account zugreifen und so das Ticket dem Schaffner zeigen, der mich mit einer Mischung aus Misstrauen und Mitgefühl ansah.


Am späten Vormittag in Bonn angekommen, war es zu früh, um im Hotel einzuchecken. Das Wetter war gut, also begab ich mich auf den Spuren der sowjetischen Karten in die Stadt. Irgendwann habe ich mich verlaufen. Ich war desorientiert, weil das Gebäude, nach dem ich suchte, anscheinend verschwunden war (war es abgerissen worden?). Die Straßen verliefen anders als auf der Karte angegeben. Ich konnte dies nicht mit Google Maps überprüfen. Ich würde es später im Hotel auf meinem Laptop checken. Ich schaute wieder auf die Karte, um zu sehen, wie ich weitergehen könnte. Kann ich Ihnen helfen? Ein alter Mann kam auf mich zu und warf einen Blick auf meine Karte. Er konnte sehen, dass es eine russische Karte war. Oh nein. Vielen Dank. Schnell faltete ich die Karte zusammen. Ich habe es schon gefunden. Der Mann sah mich mit einer Mischung aus Argwohn und Geringschätzung an.


Am Abend stellte sich heraus, dass das Internet im Hotel nutzlos war. Ein sehr schwaches Wi-Fi-Signal machte es unmöglich, meine Post zu checken oder im Internet zu recherchieren. Normalerweise würde ich in solchen Fällen mein Smartphone als Hotspot nutzen, aber das war diesmal nicht möglich. Zum Glück hatte ich ein Buch mitgebracht, Walter Benjamins „Berliner Kindheit um 1900“. Ich ging ins Bett und begann zu lesen. Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln. Diese Kunst habe ich spät erlernt; sie hat den Traum erfüllt, von dem die ersten Spuren Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte waren... Nach einer Weile bin ich eingeschlafen. Ich hielt das braune Telefon in meiner Hand. Ich wollte die Vergangenheit anrufen. Ich legte das Telefon an mein Ohr. Es gab eine Art Summen. Ich hatte das Freizeichen total vergessen, welches man hört, wenn man von einem Festnetztelefon aus anruft. Als ich noch ein Kind war, nahm ich mehrmals am Tag den Hörer des Telefons ab, um sicher zu sein, dass der Ton immer noch da war. Dann begann sich der Ton zu ändern. Das Summen wurde zum Singen. Plötzlich wusste ich, dass ich dem lauschte, was der Protagonist in Franz Kafkas Roman „Das Schloss“ hörte. Es war, wie wenn sich aus dem Summen zahlloser kindlicher Stimmen – aber auch dieses Summen war keines, sondern war Gesang fernster, allerfernster Stimmen -, wie wenn sich aus diesem Summen in einer geradezu unmöglichen Weise eine einzige hohe, aber starke Stimme bilde, die an das Ohr schlug, so, wie wenn sie fordere, tiefer einzudringen als nur in das armselige Gehör. Ich wurde von diesem hohen, durchdringenden Klang geweckt. Ich schaltete den Alarm des braunen Mobiltelfons aus. Ich hielt es an mein Ohr. Leider gab es kein Freizeichen.


Ich wollte ein Foto vom braunen Mobiltelefon machen, aber wie macht man das? Es hatte keine Kamera. Sonst hätte ich ein Foto vor einem Spiegel machen können. Die Brennweite meiner analogen Kamera war zu klein, um das Handy richtig fotografieren zu können. In diesem Moment ging ich an einem Copyshop vorbei. Ich ging hinein, legte das Telefon auf den Kopierer, bedeckte es mit der russischen Karte und drückte auf den Kopierknopf.


Wieder Abend. Zurück im Hotel, schaltete ich mein Laptop an, um Musik zu hören. Es spielte ein Lied von James Figurine, der über sein Handy sang:

I have to type eleven numbers into my cell phone
Just to make it spell ‘love’
So I usually don’t
And it takes up fifteen digits to spell out ‘goodbye’
But if I leave out the ‘good’ I can save us some time
5 5 5 6 6 6 8 8 8 3 3

Der Song wurde 2006 veröffentlicht, nur ein Jahr bevor das erste iPhone herauskam. Figurine sah mit einer gewissen Nostalgie auf die Zeit zurück, in der es keine Handys gab. I turned off my phone, you did the same. And we fought face-to-face like it was the nineties again (Deutsch: Ich habe mein Handy ausgeschaltet, du hast das gleiche getan. Und wir haben von Angesicht zu Angesicht gekämpft, als wären es wieder die Neunziger). Jetzt – nach einem weiteren Jahrzehnt – kann man mit den gleichen wehmütigen Gefühlen auf die ersten Handys zurückblicken.

Mir wurde klar, dass ich in den letzten Tagen nicht das braune Handy benutzt hatte. Ich hatte keine Anrufe gemacht, niemand hatte mir eine SMS geschrieben, noch hatte ich irgendeine Nachricht gesendet. Die einzige Art und Weise, in der ich es benutzt hatte, war als Uhr. Trotzdem ließ es mich nicht mehr los. Ein Telefon, das mich von Anruftönen und einem Roman von Franz Kafka träumen ließ! Ich nahm das braune Kafka-Telefon und begann, meinem Schatz eine Nachricht zu senden. Ich fing an zu tippen.
5 5 5 6 6 6 8 8 8 3 3

Ljuxx
Utrecht, Niederlande

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