Kontrollverluste
Netherlandish Proverbs (1559) Pieter Bruegel

Kontrollverluste

Vor kurzem bin ich bis zu beiden Knöcheln im Schlamm versackt, als ich versuchte, ein festgefahrenes Auto aus dem Dreck zu ziehen. Ich hatte einen Freund besucht, nennen wir ihn R, der an so einem Ort wohnt, wo noch vor zwanzig Jahren an einem Wochenende nicht viel los gewesen wäre. Heutzutage findet dort samstags ein Markt statt, um die Nachfrage nach regionalen Produkten direkt vom Erzeuger für ein Restaurant mit 50 Sitzplätzen zu befriedigen. Es schüttete wie aus Kübeln. Unser ruhiger Ausflug zum Markt nahm in dem Moment eine dramatische Wendung, als wir zu unserem Auto zurückkamen und merkten, dass das Stück Gras, auf dem wir geparkt hatten, sich in unserer Abwesenheit in einen Sumpf verwandelt hatte.

Was dann folgte, glich einer Szene bei Hokusai oder Bruegel, mit einer Menge freundlicher Passanten, die nacheinander am vorderen Kotflügel mithalfen zu schieben, während R den Rückwärtsgang einlegte, mit dem Ergebnis, dass am Ende alle total verdreckt waren. Irgendwann ging R dann zurück zum Markt und kam mit einer Filzmatte wieder. Die legten wir unter den Vorderreifen, der mehr Grip zu haben schien, und so bekamen wir das verdammte Ding zu dritt wieder frei.

Solche Momente sind sehr rar geworden. Ich meine damit nicht die Verbündung von ein paar Fremden zur gemeinsamen Lösung eines Problems. Ich meine den Verlust an Grip, den Kontrollverlust, die ungewollte Unterbrechung unseres glatten Samstagmorgens auf Instagram. Wir haben die Lust am Unerwarteten, Unkontrollierbaren, am Zwischenfall verloren. Wir erwarten einen gepflasterten Parkplatz. Unsere Ethik gilt der Kontrolle.

Chad Wellmon ist Professur für Literatur an der Universität von Virginia. Vor vier Jahren, schreibt Wellmon, glaubte ich noch zu wissen, was eine Universität ist.

Als Wellmon Leiter eines Colleges seiner Universität wurde, sah er sich an diesem Hochschulinternat mit dem konfrontiert, was er die Andere Universität nennt.

Die Andere Universität hat kein wissenschaftliches Lehrpersonal; die Mitarbeitenden haben Berufsabschlüsse und Doktortitel im Bereich der Hochschulverwaltung. Die Andere Universität hat keinen Lehrplan; hier geht es um Programmplanung: Gesundheit und Wellness, multikulturelles Denken, Gemeinschaftssinn, Persönlichkeitsentwicklung und Karriereberatung. In der Managementkultur der Anderen Universität werden diese Themen nicht diskutiert oder entdeckt, vielmehr sind sie Botschaften, die es zu verinnerlichen und befolgen gilt. … 
Wenn es in der Lehre um die Bildung der Studierenden geht, so geht es an der Anderen Universität um ihre Schulung.

Die Management-Ethik, die Kontrollkultur, beschränkt sich jedoch nicht auf die Klasse der professionellen Manager und deren Erben. Sie infiziert uns alle. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben sich über Generationen entwickelt. Egal, ob wir Technologie im weiteren Sinne verstehen oder im engeren Sinn des Gerätes aus Glas und Halbleitern, das wir in der Tasche mit uns herumtragen: sie hat die Entstehung der Kontrollkultur nicht verursacht, trägt jedoch sicherlich dazu bei.

Der Überwachungskapitalismus, die fortwährende Kolonisierung unserer Aufmerksamkeit, um nicht zu sagen unserer Wünsche, ist uns mittlerweile allen bewusst. Ich liege nachts wach und denke: sie wissen Bescheid. Trotz all meiner Verschleierungsversuche wissen sie, dass ich Ausflüge in diesen Teil der Welt nicht bloß mache, um einen alten Freund zu besuchen, sondern auch, um mir verlassene Bauernhöfe und Bauwagen anzuschauen, um ein Stück trockenen Bodens zu finden, das mich und meine Partnerin vor der galoppierenden Inflation retten könnte. Im Grunde geht es in der Aufmerksamkeitsökonomie darum, aus jedem bewussten Akt eine Gelegenheit zu generieren, um etwas verkaufen zu können. So wurde irgendwo ein Lagrange-Multiplikator aktualisiert, damit ich mit Immobilienanzeigen versorgt werde.

Jedoch ist die Kontrollkultur, diese Entschlossenheit, jederzeit vollständig zu wissen, was um uns herum geschieht, jedes unerwünschte Ereignis vorherzusehen und es im Voraus zu steuern, wohl heimtückischer als der Überwachungskapitalismus – denn wir erleben sie nicht als etwas, das uns von außen aufgezwungen wird, sondern als etwas, das in uns selbst erwächst.

Wenn dann die großen Kontrollverluste kommen: Überschwemmungen, Waldbrände und Pandemien (man beachte den Plural), sehen wir uns schlecht gerüstet. (Vor zwanzig Jahren hätte es nicht geregnet, sondern geschneit auf unserem Ausflug zum Bauernmarkt – wenn es den gegeben hätte). 

So wenig wie Telefone und der technisch-administrative-ethische Apparat, für den sie stehen, zur Entstehung einer Kultur der Kontrolle geführt haben, so wenig kann uns das Telefon von dieser Kultur befreien. Zu lernen, in der Unbeständigkeit zu leben, ist kein einmaliger Kampf, sondern eine lebenslange Übung, die nicht nur von jedem Einzelnen allein, sondern auch gemeinsam praktiziert werden muss. Warten wir nicht. Lassen wir uns ein auf die alltäglichen Gripverluste, damit wir, wenn sich die Welt in Schlamm verwandelt, zumindest den Langmut haben, um auszusteigen und zu schieben.

Über den Autor: 
Josh Berson ist Anthropologe und unter anderem Autor von The Human Scaffold: How Not to Design Your Way Out of a Climate Crisis (2021) und The Meat Question: Animals, Humans, and the Deep History of Food (2019). Mit Carla Nappi leitet er das Forschungsinstitut Midden.
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Weiterführende Literatur
Wellmon, Chad. 2021. Degrees of Anxiety. The Point 25 (August 15). https://thepointmag.com/examined-life/degrees-of-anxiety/ 

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